Es ist noch um ein kleines, so wird mich die Welt nicht mehr sehen;
ihr aber sollt mich sehen; denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.

Jesus

Was ist Leben?

Das eine Frage, wie diese nicht in einem kurzen Text wie diesem zu beantworten ist, ist selbst ein wesentlicher Teil der Antwort.

Johann Gottlieb Fichte schreibt in seiner Analyse der Thatsachen des Bewußtseyns: „Das Leben ist freilich aus sich, von sich, durch sich der Form nach, d.i. in seiner Thätigkeit. Dies geht unmittelbar aus seinem Begriff hervor, denn außerdem wäre es gar nicht Leben.“1

Wenn wir uns selbst fragen, welche Tätigkeiten lebendig sind, so stoßen wir unweigerlich auf den Begriff der Freiheit, der Selbstbestimmung und die Erkenntnis, dass unser Ich nicht lebendig wäre, wäre es ein Rädchen im mechanischen Ablauf kausaler Bestimmungen.

Dennoch empfinden wir diese Freiheit nicht immer, sondern wir leiden an den gefühlten und gedachten Zwängen und Notwendigkeiten. Wir sehen uns bestimmt durch die Bilder die wir uns von uns selbst und vom Leben machen.

Sobald wir aber darauf aufmerksam werden, dass wir uns Bilder machen und in dieser Tätigkeit Freiräume entdecken, entwickeln wir die Fähigkeit, uns als frei zu erkennen. Wir lösen uns von festgefahrenen Bildern und Mustern und entwickeln im Gespräch mit Menschen die uns unterstützen Lösungen in und aus denen wir Leben gestalten.

Im Leben betreten wir die offenen Möglichkeitsräume der Leerstelle. Wir erleben unsere Tätigkeit als frei, indem wir zum Urheber des Gegebenen werden.

Wo immer Menschen diese Fähigkeit entwickeln vollziehen sie, wie Epiktet einmal formulierte, „die Zeremonie ihrer Freilassung“ und die Wege hierzu sind so verschieden, wie die Menschen, die sie gehen.

Einer Ansicht nach, sind diese Wege lediglich Annäherungen an das eigentliche Leben, das unerreichbar erscheint: „Das Leben drum in seinem eigentlichen Seyn ist Bild Gottes, so wie er ist schlechthin in sich selbst. Als formales Leben aber, als wirklich lebendiges und thätiges, ist es das unendliche Streben, wirklich zu werden dieses Bild Gottes, das es aber, eben darum, weil dieses Streben unendlich ist, nie wird.“2

Solange wir uns selbst im Bild dieses Strebens erkennen, solange warten wir auf unsere „zweite Geburt“. Meister Eckehart spricht so davon: „Soll die Seele Gott erkennen, so muss sie auch sich selbst vergessen und muss sich selbst verlieren; denn solange sie sich selbst sieht und erkennt, so sieht und erkennt sie Gott nicht.“3

So gibt es „zweierlei Geburt der Menschen: eine in die Welt und eine aus der Welt, will sagen: geistig in Gott hinein.“4 Dabei wird versucht, auf ein Leben „ohne Vermittlung irgendeines Bildes“ hinzuweisen: „Und daher muss da Schweigen und Stille herrschen, und der Vater muss da sprechen und seinen Sohn gebären und seine Werke wirken ohne alle Bilder.“5

Das heißt aus der lebendigen Hingabe des Menschen, nachdem er sich als frei erfasst hat, und die Aufgabe dieser Selbstständigkeit im Maßstab der Stille, schaffen eine Leerstelle, die sich jenseits aller Bilder bewegt.

„Niemand soll glauben, dass es schwer sei, hierzu zu gelangen, wenngleich es schwer klingt und auch schwer ist am Anfang und im Abscheiden und Absterben gegenüber allen Dingen. Aber wenn man erst hineinkommt, so hat es nie ein leichteres, lustvolleres und liebenswerteres leben gegeben.“6

Die soziale Praxis der Gespräche in der leerstelle will einen Raum für Kunst und Leben bereit stellen, in dem wir uns auf dieses Leben hin zu und schließlich in diesem Leben selbst bewegen.


1 Johann Gottlieb Fichte: Die Thatsachen des Bewußtseyns (1810/11). In: Späte wissenschaftliche Vorlesungen I, Stuttgart, 2000, S. 359.

2 ebenda, S. 389f.

3 Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate, München, 1955, Predigt 36, S. 325f.

4 ebenda, Predigt 35, S. 320.

5 ebenda, Predigt 57, S. 419.

6 ebenda, Predigt 36, S. 326.