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Die Herde
2025 In Ausstellung Konstellation Konzept Konzept Objekt void concept

Appropriated constellation in situ, ca. 120 x 260 x 370 cm, ehemaliges Kloster Potigny, Frankreich, 2025.

Und da er das Volk sah, jammerte ihn desselben;
denn sie waren verschmachtet und zerstreut
wie die Schafe, die keinen Hirten haben.

Matthäus 9, 36

Elf offensichtlich ausrangierte und ihrer Funktion beraubte Stahlheizkörper stehen in einer losen Gruppierung ohne erkennbare Ordnung in den Ausstellungsräumen des ehemaligen Zisterzienserklosters Pontigny (Frankreich). Die leeren, teils baufällig wirkenden Räume erzählen von der wechselhaften Geschichte des Ortes und seines durch die Säkularisation beförderten Verfalls.

Hier tritt eine Herde von Objekten auf, wie eine stille Prozession oder eine unfreiwillige Demonstration vergänglicher Botschafter aus der Welt der Dinge. Überreste – oder kann man sagen, Reliquien? – eines säkularen Zeitalters, versammeln sich an einem Ort, der im Jahr 1114 als die „zweite Tochter von Cîteaux“ in einem unwegsamen Sumpfgebiet von 12 Mönchen unter Abt Hugo von Mâcon aufgebaut wurde. Der heute noch erhaltene zweite Kirchenbau der ehemaligen Primarabtei ist mit 108 m Länge und 25 m Breite heute die größte erhaltene Abteikirche der Zisterzienser, obwohl hier seit der französischen Revolution keine Klostergemeinschaft mehr existiert.

Dennoch können wir uns den Raum noch denken als einen, der erfüllt ist von den Worten des einhundertsten Psalms.

Erkennt, daß der HERR Gott ist!
Er hat uns gemacht, und nicht wir selbst,
zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.

Psalm 100, 3

Die von den Zisterziensern hier gelebte Askese und Kontemplation, der die Einfachheit, Klarheit und Stille der lichtdurchfluteten, schmucklosen und auf das Wesentliche reduzierte Architektur diente, ist weit entfernt, von den Bedürfnissen nach wohlig beheizten Wohnräumen unserer Zeit.

Diese Herde, die uns hier begegnet, diente nicht der spirituellen Wärme einer innigen Verbindung mit dem Heiligen, sondern sie sollte mit Heiz-Körpern frierende Individuen einer verlorenen oder verstreuten Gemeinschaft in der postindustriellen Kälte warm halten.

Die elf Objekte verweisen subtil auf den Moment eines Mangels, des Nicht-Mehr-Vollständigen.

Die Jünger nach Judas’ Verrat waren zu elft. Einer fehlt – das Gleichgewicht scheint gestört – und auch ein Hirte ist nicht in Sicht.

Folgt man der biblischen Geschichte, dann deshalb, weil sich Judas erhängt hat, und Jesus als Störfaktor einer irdischen Ordnung ermordet wurde. Johannes läßt ihn über sich sagen: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ (Joh. 10,11).

In den Erzählungen über Jesus begegnet uns die Herde aber ganz anders auch noch einmal. Auch hier geht es um Leben und Tod.

Lukas beginnt die Geschichte folgendermaßen: „er reiste durch Städte und Dörfer und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die zwölf mit ihm, dazu etliche Weiber, die er gesund hatte gemacht von den bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißt, von welcher waren sieben Teufel ausgefahren, und Johanna, das Weib Chusas, des Pflegers des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihm Handreichung taten von ihrer Habe.“ (Lukas 8, 1-3).

Matthäus flicht noch die schockierende Antwort Jesu an einen Jünger, der noch seinen Vater beerdigen möchte, ehe er mit Jesus zieht, ein: „Folge du mir und laß die Toten ihre Toten begraben!“ (Matthäus, 8, 22). Dann folgt die Stillung des Sturmes bei der Überfahrt über den See Genezareth und kaum sind sie am anderen Ufer angekommen, berichtet Matthäus: „Da liefen ihm entgegen zwei Besessene, die kamen aus den Totengräbern und waren sehr grimmig, also daß niemand diese Straße wandeln konnte. Und siehe, sie schrieen und sprachen: Ach Jesu, du Sohn Gottes, was haben wir mit dir zu tun? Bist du hergekommen, uns zu quälen, ehe denn es Zeit ist? Es war aber ferne von ihnen ein große Herde Säue auf der Weide. Da baten ihn die Teufel und sprachen: Willst du uns austreiben, so erlaube uns, in die Herde Säue zu fahren. Und er sprach: Fahret hin! Da fuhren sie aus und in die Herde Säue. Und siehe, die ganze Herde Säue stürzte sich von dem Abhang ins Meer und sie ersoffen im Wasser. Und die Hirten flohen und gingen hin in die Stadt und sagten das alles und wie es mit den Besessenen ergangen war. Und siehe, da ging die ganze Stadt heraus Jesu entgegen. Und da sie ihn sahen, baten sie ihn, daß er aus ihrer Gegend weichen wollte.“ (Matthäus, 8, 28-34).

Jesus heilt Menschen, die von unreinen Geistern lange Zeit geplagt wurden und „mit Ketten gebunden und mit Fesseln gefangen“ waren, wie es Lukas formuliert, und die Menschen, die dies sehen, baten ihn, daß er aus ihrer Gegend verschwinden solle.

Die Geschichte scheint wie ein Vorbote der Geschichte des Klosters. Auch hier wurden die Menschen, die das Heilige verkünden wollten, schließlich weggeschickt.

Doch scheinbar läßt es sich nie ganz vertreiben. Und die Kunst scheint wie ein Vorbote oder Nachhall der geistigen Welt für die das verfallende Kloster ein Bild ist.

So hat dort in den düsteren Zeiten des 20. Jahrhunderts Paul Desjardins, in dessen Besitz das Kloster 1909 überging, zu „Décades de Pontigny“ eingeladen. Künstler und Denker haben sich völkerübergreifend getroffen, um das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, von Glaube und Vernunft, von Gemeinschaft und Vereinzelung zu bestimmen. In den Jahren 1910 bis 1914 und danach von 1922 bis 1939 trafen sich dort unter anderem Antoine de Saint-Exupéry, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, T.S. Eliot, Thomas Mann, Heinrich Mann und Helmut Kuhn, und Pontigny war ein Zufluchtsort, um den lebensbedrohlichen Geistern der Zeit zu entkommen.

Und jetzt: Steht hier die deplazierte und isolierte Herde Heizkörper in einer stummen Versammlung herum. Ist es die Herde der Säue, in die die Legion der Teufel gefahren ist oder ist dies die Herde der Schafe, die sich, ihres Hirten und Bruders verlustig, verängstig in ihren privaten Wohnräumen verstecken, um nicht zu sterben?

„Die Herde“ ist in situ eine Anordnung der Kunst.
Sie kann uns ein Anlass werden, Verlust, Wandlung oder Beharren der Metapher zu erfahren, die zwischen der dysfunktionalen Gegenwart und der erwartbaren Ewigkeit unseres Menschseins wie eine offene Leerstelle erscheint.

Können wir zurückkehren und uns verbinden zu „seinem Volk und zu Schafen seiner Weide“? Wohl kaum, denn das ist mit menschlichem Tun nicht zu machen.

Oder fahren die Teufel in uns und wir stürzen wie eine Herde Säue über die Klippen hinab in den Abgrund des Todes? Wohl kaum, denn wir sind ja das „Volk, das ihn jammert“, die lebendigen Wesen in denen die Gnade erscheint.


2025, Konstellation, Sichtbar, void concept
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